Die Legende von U-Boot 977: „Sie hatten Hitler an Bord“ - WELT (2024)

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Der Mann, der im zerbombten Nachkriegsdeutschland die Düsseldorfer Kö entlangging, dachte im ersten Augenblick, er höre nicht richtig: „Hitler lebt!“, rief der Zeitungsverkäufer. Und ließ die Passanten wissen, der Diktator sei nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Bord des U-Bootes U 977 nach Argentinien geflohen. Am Zeitungsstand angekommen, las der Mann dieselben Worte fett auf der Titelseite eines Boulevardblatts.

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In dem Bericht hieß es, ein Autor namens Ladislao Szabo habe Beweise, dass Hitler und andere NS-Größen in einem Geisterkonvoi nach Südamerika gereist seien, dessen Mittelpunkt U 977 gewesen sei. Der Mann brach bei der Lektüre in hysterisches Gelächter aus – er hatte U 977 im Krieg kommandiert und war im Mai 1945 gen Argentinien aufgebrochen.

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So schilderte Heinz Schaeffer 1950 in seinem Buch „U 977 – Geheimfahrt nach Südamerika“ das Ereignis, das ihn dazu bewog, das Manuskript zu verfassen. Die Story von Hitlers Flucht gehörte nach dem 8. Mai 1945 weltweit zum Inventar von Verschwörungstheoretikern. Nahrung erhielten die Gerüchte durch die Tatsache, dass sich Schaeffer geweigert hatte, dem Kapitulationsbefehl der Alliierten Folge zu leisten und vom Mai bis Mitte August 1945 von Norwegen nach Mar del Plata fuhr.

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Dort war am 10. Juli schon U 530 unter dem Kommando von Otto Wermuth aufgetaucht, daher das Gerede vom Geisterkonvoi. Und obwohl Schaeffer sein Buch schrieb, um mit dieser Legende aufzuräumen, gibt es bis heute Zweifel, ob sein Bericht der Wahrheit entspricht.

Der Text zeugt von dem Geist, der unter vielen deutschen U-Boot-Fahrern des Zweiten Weltkriegs herrschte. Sie hielten sich für eine absolute Eliteeinheit. Kein Wunder, in den ersten Kriegsjahren gingen die Namen von Kommandanten wie Prien, Kretschmer oder Schepke häufig durch die Wochenschauen, ihre Versenkungen machten erfolgreiche U-Boot-Fahrer zu Popstars.

Treu ergeben war die U-Boot-Waffe ihrem Befehlshaber Karl Dönitz. Der schickte zwar ab 1943 Besatzungen in den Kampf, die kaum eine Überlebenschance hatten, und soll unter vier Augen mit Erkenntnissen wie „Jedes Mal, wenn ich vom Führer komme, fühle ich mich wie ein Wurm“ geglänzt haben. Aber wer Interviews mit überlebenden Kommandanten liest oder sieht, der merkt: Sie alle waren auch nach 1945 noch Dönitz‘ Charisma erlegen, selbst wenn von ihren 40.000 Kameraden 30.000 auf See den Tod fanden.

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Die Zeit der Erfolge hatte Schaeffer als Kommandant nicht erlebt. Von Mai 1942 bis Oktober 1943 diente er auf vier Feindfahrten als Wachoffizier von U 445. Ab November 1943 kommandierte er das Schulboot U 148. Erst im März 1945 übernahm er U 977. Schaeffer schreibt, seine Laufbahn als Soldat habe auf dem Prinzip beruht, dass nur befehlen könne, wer zuvor gehorchen gelernt habe. Dieser Satz und seine offensichtliche Demut vor Dönitz bildeten den Hintergrund, in Eigenregie nach Argentinien zu fahren.

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Schaeffers Darstellung zufolge erreichte die Nachricht vom Kriegsende U 977 vor Norwegen. Doch konnte sich der Oberleutnant nicht vorstellen, dass Dönitz als Nachfolger Hitlers eine bedingungslose Kapitulation akzeptiert hätte: „Wir kämpfen bis zum letzten Mann“ sei in den Tagen zuvor die Devise gewesen – und es habe keinen Anlass gegeben, bei Dönitz von einem Sinneswandel auszugehen.

Deshalb habe er beschlossen, sein Boot nicht wie befohlen den Engländern zu übergeben. Über Bordlautsprecher habe er sich eindringlich an seine Mannschaft gewandt: „Kameraden, allzu genau wissen wir, was dem deutschen Volke bevorsteht … Deutsche Frauen und Mädchen sind den Besatzungsmächten schutzlos zur Vergewaltigung ausgeliefert, Männer sind verschleppt worden … Es liegt nun bei uns, so zu handeln wie wir es für richtig halten.“

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Diese Worte hinterließen bei der Mannschaft laut Schaeffer große Wirkung: 32 von 48 Mann seien bereit gewesen, sich auf den Weg nach Argentinien zu machen. Das Boot vom deutschen Standardtyp VII C sei zwar nicht in optimalem Zustand, aber dafür bestens mit Proviant versorgt gewesen.

Die übrigen 16 Leute ließ der Kommandant an der Küste Norwegens in Schlauchbooten von Bord, heißt es in dem Buch: Bei ihrer Gefangennahme sollten sie erzählen, U 977 sei auf eine Mine gelaufen und sie seien die letzten Überlebenden.

Die Fahrt über den Atlantik beschrieb Schaeffer als Heldentat – und hier vor allem die 66 Tage, die das Boot mit Hilfe seines Schnorchels durchgängig getaucht gefahren sei. Denn noch immer hätten alliierte Jagdgruppen die Meere nach deutschen Booten abgesucht.

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Und so erzählte der Autor von der unerträglichen Enge unter Wasser, von Müll, Maden und Dieselabgasen im Boot, von Streit, Geschwüren, Gestank und Nerven, die jederzeit außer Kontrolle geraten konnten. Zum Wendepunkt stilisierte er den Moment, an dem einer seiner Männer Schokolade gestohlen habe.

Wieder habe er zur Mannschaft gesprochen: „Sind Sie alle nicht alt genug, um zu wissen, was anständig ist und was nicht? Gehörten wir nicht der stolzesten Waffengattung einer weltberühmten Wehrmacht an? Nicht umsonst nannte man uns die Grauen Wölfe. Und jetzt – wollen Sie schlappmachen?“ Nachdem der Täter erkannt war und seine Strafe verbüßt habe – niemand habe mit ihm sprechen dürfen –, sei auf einem Kameradschaftsabend die Disziplin wiederhergestellt worden.

Die Zeit nach dem Auftauchen im Südatlantik liest sich beinahe wie eine Urlaubsgeschichte. Die Mannschaft badete im Meer, voller Freude, wieder an der frischen Luft zu sein und lässt es sich so gut gehen wie irgend möglich. Mit dem Einlaufen in Mar del Plata am 17. August jedoch begannen laut Schaeffer die Verhöre und die Spekulationen darüber, dass der Kommandant Hitler, Eva Braun sowie die NSDAP-Größe Martin Bormann transportiert und vor der Einfahrt in Mar del Plata an Land gebracht habe. Außerdem war Wochen zuvor der brasilianische Frachter „Bahia“ explodiert, auch dafür habe die Mannschaft unter Verdacht gestanden.

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Die Argentinier rühmte Schaeffer als ritterliche Offiziere, stets hätten sie ihn mit Respekt behandelt. Er habe ihnen das Logbuch der Fahrt vorgelegt, inklusive der Wetteraufzeichnungen des Bordbarometers, zur Dokumentation seiner Standorte. Seine Gesprächspartner seien bald zufrieden gewesen, allerdings sei er rasch nach Washington überstellt worden.

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Dort hätten die Verhörspezialisten ihn stundenlang mit der Aussage „Sie hatten Hitler an Bord“ malträtiert, genau wie die britischen Kollegen nach seiner Auslieferung auf die Insel. Doch es habe sich eben nicht der kleinste Beweis für die irrwitzige Anschuldigung gefunden.

Schaeffers Boot wurde 1946 bei einem Manöver der US Navy als Zielschiff von einem U-Boot versenkt. Kaum lag das Wrack auf dem Meeresgrund, schossen weitere Verschwörungstheorien ins Kraut.

Die These des britischen Historikers Mark Felton

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Und erst unlängst hat der britische Historiker Mark Felton behauptet, die argentinischen Marineakten widersprächen den Ausführungen in Schaeffers Buch. Ihnen zufolge habe der Kommandant ausgesagt, am 10. Mai 1945, also zwei Tage nach Kriegsende, auf Befehl von Karl Dönitz nach Dänemark gefahren zu sein. Dort habe er so viel Fracht – vor allem Nahrungsmittel – aufgenommen, dass er 16 Leute habe zurücklassen müssen, damit das Boot schwimmfähig bleibe. Welche Fracht genau Schaeffer an Bord hatte und für wen sie bestimmt war, stehe nicht in den Akten.

Im Atlantik sei Schaeffer dann häufiger auf alliierte Schiffe und auf Flugzeuge gestoßen, vor denen er getaucht sei. Für Felton bedeutet dies, dass die 66 Tage unter Wasser eine Lüge sind. Den Äquator habe der Kommandant nicht wie im Buch geschrieben am 22. Juli erreicht, sondern den Akten zufolge bereits am 4. Juli, Rio habe er am 10. Juli passiert.

Da Mar del Plata von Rio 1300 Kilometer weit entfernt liege, hätte U 977 die Stadt bei langsamer Fahrt unter Wasser in neun Tagen erreichen können, sagt Felton. Tatsächlich sei das Boot aber erst 38 Tage später eingelaufen – und das ohne die Fracht, von der Schaeffer gesprochen hatte.

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Über die Gründe für die Ungereimtheiten lässt sich nur spekulieren. Hat Schaeffer bewusst bei seiner Ankunft gelogen? War er nach der langen Reise durcheinander? Handelt es sich um Übersetzungsfehler? Oder wollte der Kommandant sich durch ein Buch voller Seemannsgarn zum Helden machen? Aber warum hat dann niemand aus der Mannschaft widersprochen? Und wie passt zu all dem, dass Heinz Schaeffer schon bald nach dem Krieg für eine Weile in Argentinien lebte?

Die Antworten nahm er mit ins Grab. Er starb 1979 im Alter von 57 Jahren in Berlin. Sein Buch endet mit den Worten: „Und auch hier in Argentinien, fern der Heimat meiner Väter, trage ich noch mit mir das größte Vermächtnis, das mir der Zweite Weltkrieg hinterließ: den Glauben an den deutschen Menschen!“ Wie auch immer schaffte es Heinz Schaeffer also, mit seinem U-Boot nach Mar del Plata zu gelangen. In der Bundesrepublik allerdings dürfte er nie mehr angekommen sein.

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Dieser Artikel wurde erstmals im Juni 2020 veröffentlicht.

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